Dienstag, September 08, 2009

Privatheit und Öffentlichkeit - spezifische Situation schwerer Erkrankung

Das Konzept der Privatheit soll erhalten bleiben; man kann die Position vertreten, dass es im eigenen Leben Dinge gibt, die nicht alle etwas angehen. Sollte es so etwas wie Zwang zur Öffentlichmachung von Privatem, zur Auflösung von Privatheit geben, ist Widerstand praktizierbar.
Die existentiell exponierte Situation des Schwererkrankten weist aber Besonderheiten auf; es ändern sich u.a. der Blick auf und die Stellung zur Realität; damit evtl. auch die Einschätzungen der Bedeutung von Privatheit und Öffentlichkeit.
Über längere Zeit galt es als Regel, dass der Kranke ohne übermäßig viele Äußerungen sein Leid als Schicksal auf sich zu nehmen hat. Viele Kranke haben es aber inzwischen als hilfreich empfunden, diese Isolation zu verlassen - in unterschiedlich großem Umfang. Sie haben festgestellt, dass das, womit sie in der Krankheit konfrontiert werden, nicht nur sie und ihr Leben betrifft: Zusammenbruch des Bisherigen, Umwertung, vielfältige Ängste, Alleinsein, Entmündigung, Ärger über das Verhalten von Ärzten, das seit Jahrzehnten kritisiert wird und sich nicht grundsätzlich ändert, nicht-patientenorientierte Abläufe im Krankenhaus, Auswirkungen eines zunehmend mehr gewinngesteuerten Gesundheitswesens, Fragen nach dem Sinn der eigenen Existenz, der Umgang mit der noch zur Verfügung stehenden begrenzten Zeit, Auseinandersetzung mit dem konkret bevorstehenden - nicht irgendwann zu erwartenden - Sterben und Tod. Das sind Dinge, die persönlich erlebt werden und persönlich bearbeitet werden müssen, in ihrer Bedeutung aber das Private überschreiten und öffentlicher Gegenstand sind, weil sie nicht nur auf den Einzelnen Bezug haben. Insofern wird die Öffentlichmachung als Befreiung, Voraussetzung für gegenseitige Unterstützung und als Möglichkeit zur Verbesserung der Verhältnisse aufgefasst.
Jemand in einer Situation dieser Art braucht Informationen und vielseitige Unterstützung; wenn das zusätzlich zum privaten Bereich auch aus dem öffentlichen kommen kann, kann das eine weitere Hilfe sein - allerdings kann es bei einem Zuviel auch in sein Gegenteil umschlagen und zur Belastung werden. Dazu ist aber die partielle und durch den Betroffenen limitierte Aufhebung der Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit nötig.
Gegenstand seiner Entscheidung soll bleiben, in welchem Umfang der Einzelne etwas öffentlich machen will.
(Zur Diskussion um den Kommentar von Michael Angele, freitag.de, 3.9.2009).

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