Mittwoch, November 11, 2009

Trauma-Journalismus: "Den Opfern ein Gesicht geben"

Unbefragt zu akzeptieren, als hätte sie nur eine Intentionsrichtung, ist diese Formulierung nicht; sie kann Ausdruck von Empathie oder von professionellem Geschick oder einer Vermischung von beidem sein. Ohne dass etwas unterstellt werden soll, wäre zu reflektieren:
1. Im Vordergrund steht für die Journalistin qua ihrer Funktion, dass sie einen guten Artikel (oder ein Interview) bekommt, nicht der humanitäre Aspekt, die Opfer aus der Anonymität zu bringen (sogar dann, wenn ihr das subjektiv anders erschiene).
2. "Ein Gesicht geben" bedeutet Sichtbarmachung, Heraushebung, Individualisierung, Erinnerbarkeit auch für Außenstehende und ist gegen das namenlose und unbeachtete Verschwinden im Tod und in der Unerinnertheit gerichtet. Die traumatisierten Eltern können das Sich-Erinnern anderer als unterstützend empfinden. Sie sind eventuell auf dieser Ebene ansprechbar und einer Maßnahme, die sich den Auswirkungen des Verlustes entgegen zu stellen scheint, zugänglich.
3. Das Trauma-Training der Journalisten könnte auch - und sollte nicht - dazu führen, dass sie ihre Ziele auf geschicktere - weil empathische, behutsamere, zurückhaltendere - Weise zu erreichen suchen: Indem man sich auf die emotionale Ebene der Betroffenen einlässt, kann man mehr herausholen. Die Autorin spricht von einer Türöffnungsmöglichkeit durch Behutsamkeit, Rojas von "gutem Trauma-Journalismus". Dass mit dieser Vorgehensweise "das erste große Opferporträt, das nach dem Amoklauf erscheint" zustande kommt, ist eine journalistische Kategorie, keine humanitäre. Auch ein besseres Verständnis für Traumatisierung kann unterschiedlich benutzt werden - zur Optimierung von "Trauma-Journalismus" sollte das Bedürfnis der Hinterbliebenen nach Erinnerung an den Toten nicht ausgenützt werden.
(Zu: Kristina Maroldt: Konfrontation mit dem Grauen. In. "Die Zeit", 5.11.2009, S. 78).