Mittwoch, Mai 03, 2006

China: Expansion von Marktprinzipien - Psychoanalyse als remedium?

In China wird die Psychoanalyse distribuiert (s. Antje Haag: "Die Seelenkulturrevolution". In: "Zeit" Nr. 18, 27.4.2006, S. 36). Mag sein, dass für einige der aufgeführten Probleme Psychotherapie, evtl. auch Psychoanalyse, Hilfe für die individuelle Bewältigung bieten kann. Bezeichnend und bedenklich sind aber Formulierungen wie: "Die rasante Entwicklung in Richtung Marktwirtschaft schafft zweifellos einen großen Bedarf an Psychotherapie. Schätzungen gehen davon aus, dass 1,2 Milliarden Chinesen künftig etwa zwei bis drei Millionen Psychotherapeuten brauchen werden." (a.a.O.). In China gibt es Verarmung der Landbevölkerung, Millionen von Wanderarbeitern, de facto kapitalistische Elemente in der Ökonomie - was fällt Psychoanalytikern zu diesen massiven und brachialen Umbrüchen und Zumutungen ein: Psychoanalyse. Damit gerät Psychoanalyse in Gefahr, als Instrument der Verbrämung benutzt zu werden. Bei Reaktionen auf die Expansion von Marktprinzipien und ihren Effekten geht es nicht nur um coping. Sonst kommt es zu einer Aufrechterhaltung selbstproduzierter und selbstverschuldeter disziplinärer Bornierung aufgrund von Ausblendung grundlegender Faktoren.
Man kann einwenden, das sei nicht Sache der Psychotherapie bzw. der Psychoanalyse. Es ist aber durchaus eine Frage der Problemerfassung, -formulierung und -bearbeitung. Vertreter psychoanalytischer Positionen könnten außerdem dagegen sagen: Das sehen wir durchaus; aber darauf haben wir keinen (oder zumindest keinen direkten) Einfluss. Aber: Werden dann die Probleme nicht unzulässig individualisiert - unter Absehung von oder Hintansetzung ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit? Entgegnet werden auf den Vorhalt der Notwendigkeit der Umstellung gesellschaftlicher Prozesse könnte auch: Das tun wir auch. Aber mit unseren Mitteln. Wir benennen die gesellschaftlichen Abläufe als Ursachen. Wir wollen eine autonome Person. Gegen-Einwand ist: Für deren Realisierung sind gesellschaftliche Voraussetzungen nötig. Können die mit Hilfe der Psychoanalyse geschaffen werden?
Die Sozialblindheit der Psychoanalyse scheint immer noch nicht überwunden.

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