Samstag, Juni 24, 2006

Patriotismus: Zur entkrampften Normalität des Patriotismus - Simplifizierung und Verharmlosung durch inadäquate Kategorien

"Was wir in Deutschland erleben, ist ein Stück Normalisierung. Wir gehen entkrampfter und weniger neurotisch mit nationalen Symbolen und Patriotismus um." ( Krönig, Jürgen: Angst vor der Nation. In: Zeit online 4/2006).
Patriotismus ist nicht Normalität, sondern Element einer mit emotionalen Mitteln operierenden Politik - wobei es eine der Intentionen in diesem Kontext ist, Patriotismus als normal und selbstverständlich erscheinen zun lassen. Patriotismus erfordert deshalb kein "entkrampfteres" Verhältnis, sondern ein analytisch-kritisches. Patriotismus ist Ergebnis eines emotionalen Vorgangs (Herstellung affektiver Bezüge zu einer Gemeinschaft), keines argumentativen; umso mehr ist Distanz und Überprüfung nötig.
Nicht darum geht es, dass man "Patriotismus und Nationalgefühl prinzipiell für eine dunkle, gefährliche Regung hält", sondern dass man ihre Begründungen, die damit verbundenen Intentionen und die Effekte analysiert und auf dieser Basis zu einer Beurteilung kommt - dabei ist es mit Entkrampftheit, Normalität und ähnlichen Kategorien nicht getan.
Es gab und gibt gute Gründe für einen zurückhaltenden und vorsichtigen Umgang mit Termini dieser Art in Deutschland - dass das jetzt revidiert wird, ist kein Fortschritt, kein Beitrag zur "Normalisierung", sondern politisches Kalkül in einer Situation, in der zum einen an die Bürger mehr Anforderungen gestellt werden, zum anderen Wählerpotentiale ausgeschöpft werden sollen. Nicht der - sachlich und emotional nicht zwangsläufige - Bezug auf nationale Symbole und Haltungen, auf ein fiktives "Wir" ist wesentlicher Inhalt des Patriotismus, sondern Absetzung gegen und Abwertung von anderen nach "außen", Schaffung einer Grundlage für die Zumutung von Restriktionen und erhöhten Leistungsanforderungen im "Inneren". Patriotismus beinhaltet die Forderung nach Einsatz für die patria aufgrund von "Liebe" zu ihr. Leistungskürzung und Anforderungserhöhung erfordern Patriotismussteigerung.
Instinkte, die Geschichte "formen", haben wir genug gehabt - mit den entsprechenden Folgen.
Das "Verlangen nach nationaler Identität" wird produziert von denen, die ein Interesse daran haben und damit etwas erreichen wollen.
Niemand setzt den gegenwärtigen Fußball-Patriotismus undifferenziert gleich mit weitreichenderen Formen - niemand sollte aber auch Verharmlosung und Abwiegelei kultivieren. Der Autor stellt allerdings selbst politische Bezüge zum Mauerfall und der "Wiederherstellung nationaler Einheit" her.
Spezifische Anfälligkeit der Deutschen für das Böse behauptet kein ernstzunehmender Diskutant tatsächlich - dass Patriotismus historisch gesehen Beiträge zur Erreichung menschenverachtender Zustände geleistet hat, ist durchaus der Fall.
Ein "frisches, normaleres Image" für Deutschland mithilfe des Patriotismus brauchen wir nicht - dafür etwas mehr Reflexion und weniger inszenierte Oberflächlichkeit, auch und besonders in Politik und Medien.
Agiert man wie der Autor auf der Ebene von Normalisierung, Entkrampftheit, "weniger neurotisch", abstrahiert man von den Inhalten, kümmert sich nicht um die Gründe, Funktionen und Auswirkungen, läßt die Kritik am Patriotismus außer acht und benutzt eine pseudo-psychologisierende, attitudionelle Terminologie, die für die Auseinandersetzung mit politischen und historischen Problemen unbrauchbar ist - er leistet damit der "Chimäre einer 'Normalität'" des Nationalismus (Wehler) Vorschub.
Die Behandlung der Patriotismus-Thematik auf der hier vorgestellten Ebene unter Ignorierung der bisherigen Diskussion, besonders der Kritik der Funktionen von Patriotismus, ist eine beachtliche Leistung des Vergessenmachens.
Revitalisierung des deutschen Patriotismus durch Simplifizierung, Ausblendung, Verharmlosung, Herunterspielen mittels für die Problematik unbrauchbarer Kategorien? Grazie no.
(Der Text wurde als Kommentar für zeit.online geschrieben, dort aber nicht veröffentlicht. Eine Nachfrage blieb bisher ohne Ergebnis).

Samstag, Juni 03, 2006

"Marktgerechtigkeit"

"Prinzip der Marktgerechtigkeit": "Ihm zufolge hängen Löhne und Gehälter von der Marktsituation des jeweiligen Unternehmens ab und nicht davon, welche individuellen Anstrengungen am Arbeitsplatz erbracht wurden" (Lengfeld, Holger/Krause, Alexandra: Wann gilt der Arbeitsmarkt als sozial gerecht? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1/2006, S. 98).
Oder auch: "Prinzip erfolgsabhängiger Vergütung" oder "Prinzip der Marktgerechtigkeit": "Derjenige Beschäftigte soll am meisten verdienen, dessen Unternehmen die höchsten Erträge am Markt erzielt. Aus dieser Perspektive ist der Markt Garant eines gerechten Wettbewerbs um wirtschaftlichen Erfolg, und die Teilhabe der Beschäftigten am unternehmerischen Marktrisiko ist legitime Grundlage der Lohnfindung" (a.a.O., S.99).
Wieso der Markt "Garant eines gerechten Wettbewerbs" ist? Das fragen sich die Autoren auch. Es gibt eine einfache Antwort: "Doch wie wird aus dem Marktprinzip eine Gerechtigkeitsnorm? Die Antwort lautet schlicht: Wenn es die Menschen als gerecht ansehen" (a.a.O., S. 101).
Ob sie das so "ansehen", sollten sie sich sehr gut überlegen. Dass das "Ansehen als ..." das einzige und ein überzeugendes Kriterium für Gerechtigkeit ist, ist eine ziemliche Simplifizierung der Diskussion.
"Nicht die eigenen Anstrengungen, sondern die durch den Markt bewerteten Anstrengungen des Kooperationsverbundes Unternehmen entscheiden über die Höhe der Vergütung" (a.a.O., S. 101).
Es wird der Eindruck gleichberechtigter und gleichgestellter Spieler erzeugt. Wir haben zwar viel getan, aber - Pech gehabt. Vielleicht immer noch nicht mit genügend Einsatz gespielt?
Das Unternehmen wird als "Kooperationsverbund" unterstellt - leider geht es da neben "Kooperation" auch um anderes, das nicht allen Kooperierenden in gleicher Weise zugute kommt.

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