Eine der Voraussetzungen für den "mündigen Patienten" besteht darin, dass er über Prozesse bei Krankheit und Sterben Bescheid weiß. Dafür können die Berichte Betroffener eine Informationsquelle - neben anderen und zum Teil wichtigeren - sein. Das hat weder mit Voyeurismus noch mit Exhibitionismus zu tun, sondern mit Wissensgewinnung, -verarbeitung und -anwendung - für den Schreibenden wie für den Leser. Die Öffentlichmachung von Privatem kann anderen weiterbringende Einblicke gewähren. Wenn der Patient nicht über ausreichendes Wissen verfügt, kann er die Situation nicht richtig einschätzen und sein Handeln ausrichten, keine fundierten Entscheidungen treffen und die Patientenautonomie nicht wahrnehmen und ist weiterhin den Asymmetrien des Arzt-Patienten-Verhältnisses (neben den berechtigten Anteilen gibt es eine Reihe unberechtigter und für den Patienten negativer, die hartnäckig aufrechterhalten werden) ausgeliefert. Mündigkeit kann sich andererseits auch darin manifestieren, eigene Erfahrungen zu reflektieren, Erkenntnisse zu formulieren und zu kommunizieren.
Publizierte Texte können auch literarischer Kritik unterzogen werden. Wenn die Darstellungen Betroffener auch literarische Qualitäten aufweisen, ist das gut, aber nicht erstrangig. Bei manchen der Kritiker schcint es aber etwas in den Hintergrund zu geraten, dass es hier neben literarischer Kritik um anderes geht - um eventuell unterstützendes Wissen für existentielle Grenzsituationen.
(Zur Diskussion um den Artikel von Iris Radisch: "Metaphysik des Tumors". In: "Die Zeit", 17.9.2009, S.47).
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Privatheit und Öffentlichkeit - spezifische Situation schwerer Erkrankung
Das Konzept der Privatheit soll erhalten bleiben; man kann die Position vertreten, dass es im eigenen Leben Dinge gibt, die nicht alle etwas angehen. Sollte es so etwas wie Zwang zur Öffentlichmachung von Privatem, zur Auflösung von Privatheit geben, ist Widerstand praktizierbar.
Die existentiell exponierte Situation des Schwererkrankten weist aber Besonderheiten auf; es ändern sich u.a. der Blick auf und die Stellung zur Realität; damit evtl. auch die Einschätzungen der Bedeutung von Privatheit und Öffentlichkeit.
Über längere Zeit galt es als Regel, dass der Kranke ohne übermäßig viele Äußerungen sein Leid als Schicksal auf sich zu nehmen hat. Viele Kranke haben es aber inzwischen als hilfreich empfunden, diese Isolation zu verlassen - in unterschiedlich großem Umfang. Sie haben festgestellt, dass das, womit sie in der Krankheit konfrontiert werden, nicht nur sie und ihr Leben betrifft: Zusammenbruch des Bisherigen, Umwertung, vielfältige Ängste, Alleinsein, Entmündigung, Ärger über das Verhalten von Ärzten, das seit Jahrzehnten kritisiert wird und sich nicht grundsätzlich ändert, nicht-patientenorientierte Abläufe im Krankenhaus, Auswirkungen eines zunehmend mehr gewinngesteuerten Gesundheitswesens, Fragen nach dem Sinn der eigenen Existenz, der Umgang mit der noch zur Verfügung stehenden begrenzten Zeit, Auseinandersetzung mit dem konkret bevorstehenden - nicht irgendwann zu erwartenden - Sterben und Tod. Das sind Dinge, die persönlich erlebt werden und persönlich bearbeitet werden müssen, in ihrer Bedeutung aber das Private überschreiten und öffentlicher Gegenstand sind, weil sie nicht nur auf den Einzelnen Bezug haben. Insofern wird die Öffentlichmachung als Befreiung, Voraussetzung für gegenseitige Unterstützung und als Möglichkeit zur Verbesserung der Verhältnisse aufgefasst.
Jemand in einer Situation dieser Art braucht Informationen und vielseitige Unterstützung; wenn das zusätzlich zum privaten Bereich auch aus dem öffentlichen kommen kann, kann das eine weitere Hilfe sein - allerdings kann es bei einem Zuviel auch in sein Gegenteil umschlagen und zur Belastung werden. Dazu ist aber die partielle und durch den Betroffenen limitierte Aufhebung der Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit nötig.
Gegenstand seiner Entscheidung soll bleiben, in welchem Umfang der Einzelne etwas öffentlich machen will.
(Zur Diskussion um den Kommentar von Michael Angele, freitag.de, 3.9.2009).
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Krebs und Schreiben (Christoph Schlingensief, Jürgen Leinemann ...) - Verdikt "Bekenntnisliteratur"
Jemand beschreibt, was ihm durch seine Krankheit widerfährt - das wird als "Bekenntnisliteratur" abgetan ( siehe Michael Angele, freitag.de, 3.9.2009). Diese Vorgehensweise verzichtet auf eine Prüfung der Inhalte; sie ordnet einfach einer Sparte zu und "erledigt" damit die Texte.
Warum "Bekenntnis"?
Weil sich der Kranke zu seinem Krebs bekennt und ihn nicht verheimlicht? Und sich persönlich äußert? Weil er darlegt, wie es ihm in einigen Situationen geht? Was ist daran zu monieren - wäre das Gegenteil besser? Wäre Nicht-Kommunikation besser? Wäre Vereinzelung besser? Wäre sowohl für den einzelnen als für die Gesamtheit der Krebspatienten als auch die der Nichtbetroffenen oder für das Gesundheitswesen die Praktizierung einer angeblich im "Verzicht" (auf öffentliche Äußerung) liegenden "wahren Größe" vorteilhafter, erkenntnis- und handlungsförderlicher, weiterbringender?
Die mittelhochdeutsche Bedeutung von "bekennen" ist "erkennen" und "kennen". Das sind Voraussetzungen auch für ein "Bekenntnis" im gegenwärtigen Sprachgebrauch. Das heißt, jemand schreibt über etwas, das er kennt, und etwas, das er erkannt hat. Das ist nicht bei allen Autoren so. Was ist so schlecht an "Bekenntnis"? Formales?
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